Patricia Koller/ Beiträge, Texte

Vorab möchte ich kurz erwähnen, daß wir Menschen mit Behinderung eine sehr bunte Gruppe sind, die – wie Nichtbehinderte auch – nicht immer einer Meinung sind. Auch bei uns streiten sich die Geister bzgl. der Maßnahmen der Regierung. Wir sind uns allerdings einig, dass vieles, das angeordnet wurde, völlig unsinnig und unlogisch ist. Zum einen werden Gaststätten geschlossen, die sich an alle Auflagen gehalten und gute Hygienekonzepte erarbeitet haben und zum anderen bleiben überfüllte U-Bahnen und Schulbusse, in denen es sicherlich nicht steril zugeht, weiterhin möglich, weil systemrelevante Berufe wie z.B. Pflegefachkräfte und Kassierer*innen weiterhin zur Arbeit und Kinder in die Schulen fahren sollen. Auch ein Virus, das sich an Hausnummern und Uhrzeiten, wann es gefährlich ist und wann nicht, hält, hat uns schon erheitert.

Die Einschränkungen von Künstlern sind hart, unverhältnismäßig und existenzgefährdend, aber Menschen mit Behinderungen (Risikogruppe) sollten weiter in die Behindertenwerkstätten zur Arbeit kommen. Viele sind wütend. Meines Erachtens völlig zu Recht. Unverständlich ist auch die Entscheidung, die Kinder trotz der Gefahr in die Kitas und Schulen zu schicken, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Jeder weiß, dass Kinder kontaktfreudig sind und gerne herumtoben. Nun sollen die Kleinen auch noch in eiskalten Räumen lernen, weil die Fenster möglichst offen bleiben sollen. Das kann meines Erachtens nicht gut gehen.

Die Politik hat ihre Hausaufgaben nicht gemacht.

Viele Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen leben in bitterster Armut und sollten schon alleine deshalb kostenlos schützende Mund-Nasen-Schutz-Masken und Desinfektionsmöglichkeiten erhalten. Menschen mit Pflegegrad erhalten aktuell mehr Hygienemittel. Viele werden über diesen Rechtsanspruch aber auch nicht mal informiert, weil gewisse Behörden in Bayern ihrer Informations- und Beratungspflicht grundsätzlich nicht nachkommen.

So lange sich Gefährdete an alle Auflagen halten und andere weiterhin alles an Warnungen ignorieren und erst recht Party machen, macht so ein Lockdown light wenig Sinn. Die Regierung hatte viel Zeit, sich auf solche Situationen vorzubereiten, war aber wieder nur mit sich selbst und ihren Eitelkeiten beschäftigt.

Der Pflegenotstand ist seit vielen Jahren bekannt. Nach dem ersten Shutdown hätte man diese anständige Berufsgruppe mit höherer Bezahlung und besseren Arbeitsbedingungen aufwerten müssen, um die Flucht aus dem Beruf zu verhindern. Es gab Klatschen, Lavendel, billige Pausenbrötchen und Merci.

Wäre die Pflege nicht so anständig, hätte sie gestreikt, als die Not am größten war und hätte ALLES fordern können. Aber wenn die Pflege streikt, sterben Menschen, deshalb hat sie bis zur völligen Erschöpfung weitergearbeitet.

Derzeit wird überlegt, die Risikogruppe getrennt vom Rest der Menschheit zu schützen: Davon halten wir ganz klar NICHTS. Dies würde die bestehende Abspaltung nur weiter verfestigen. Der Lockdown schränkt unsere ohnehin wenig vorhandene Teilhabe am Leben noch weiter ein. Wir werden ja so schon ständig aus der Gesellschaft aussortiert, bevormundet und benachteiligt. Auch gegen das IPReG von Jens Spahn gab es einen berechtigten Aufschrei, weil damit Beatmungspatienten gegen ihren Willen in Heime gesteckt werden können. Es widerspricht ganz klar der UN-Behindertenrechtskonvention.
Wir haben selbst in einer Stadt wie München, die sich “Weltstadt mit Herz” nennt, keine Barrierefreiheit. Man sucht sehr oft vergeblich nach Behindertentoiletten und in viele Arztpraxen, Aufzüge, Geschäfte, Lokale und Veranstaltungsorte kommen wir mit dem Rollstuhl gar nicht rein. Isolation verletzt und macht krank. Viele – und vor allem Alleinstehende – wurden beim letzten Shutdown depressiv. Ein befreundeter Bewohner der Pfennigparade (Rehabilitationszentrum für körperbehinderte Menschen) meinte zu mir, er habe mehr Angst vor der Isolation als vor dem Virus. Eine Dame mit Psychiatrieerfahrung, die mir durch ihr Ehrenamt bekannt ist und eigentlich immer recht entspannt wirkte, wurde auffallend aggressiv. Es ist eben auch eine psychische Belastung. Bei mir tobte währenddessen der Lärm einer Großbaustelle und quälte mich. Bauarbeiten wurden nämlich nicht eingestellt, während wir alle in den Medien als “Helden” gefeiert wurden, weil wir brav zuhause blieben – bis auf die systemrelevanten Berufsgruppen, die ungefragt ihr Leben riskieren mussten.

Was uns alle wirklich schockiert hat, waren die Überlegungen zur Triage. Da bestand nach altbekanntem deutschem Muster bei unserer Obrigkeit gleich Einigkeit, daß Menschen mit Behinderungen zuerst sterben sollen. Behindertenfeindlichkeit schlägt uns oft entgegen, aber hier wurde sie nochmals offensichtlich.

Es war im Frühjahr 2020 sehr unmenschlich, keine Besuche in Altenheimen und Behinderteneinrichtungen zuzulassen und selbst Sterbende alleine zu lassen. Ich habe dazu auch bei einer Protestkundgebung von breakisolation.net, deren Forderungen an die Politik von dieser ignoriert wurden, eine Rede gehalten.

Die Risikogruppe sollte in regelmäßigen Abständen flächendeckend getestet werden. Zumindest in den Pflegeheimen, Krankenhäusern, Altersheimen, Wohngruppen und Behindertenwerkstätten. Gerade dort ist die Ansteckungsgefahr besonders hoch. Natürlich gilt das auch für die Pflegekräfte, Assistent*innen, usw., die im engen Kontakt mit den Patienten, Senioren und Menschen mit Behinderungen stehen.
Völlig irrsinnig wird die Situation vor Ort, wenn infizierte Pflegekräfte und Assistenten wegen des Pflegenotstands gezwungen sind, weiterzuarbeiten. So werden ganze Stationen angesteckt.

Während Künstler nicht auftreten können, Gaststätten trotz strenger Einhaltung von Hygienekonzepten geschlossen sind und beheizte Freibäder niemanden reinlassen dürfen, tobt der Lärm von der Großbaustelle um die Ecke…
Kinder und Arbeitnehmer in überfüllten Bussen usw. sind erlaubt.
Indoorsport ist verboten, aber Schulsport darf getrieben werden.
Flüchtlinge werden in Lagern auf engstem Raum zusammen eingepfercht.
Man fragt sich unweigerlich: Merkt denn bei den Regierenden keiner, daß das unlogischer Unsinn ist? Kein Wunder, daß sich immer mehr Bürger aufregen.

Arme Menschen in der Grundsicherung oder auch diejenigen im Hartz4-Bezug sollten (nicht nur) während der Pandemie mehr Geld erhalten, um sich gesund zu ernähren, damit ihre Abwehrkräfte gestärkt werden. Es mangelt auch an Geld für die Medikamente, die nicht von den Kassen übernommen werden. Oft werden die Privat-Rezepte, die sie vom Arzt erhalten, nicht eingelöst, weil sie sich die Kosten nicht leisten können.
Für diese Bevölkerungsgruppe fehlt jede Unterstützung, weil sie von den Regierenden als unwert betrachtet werden. Das gilt erst recht für die Obdachlosen, die der Gefahr am meisten ausgesetzt sind, mit denen aber besonders herzlos umgesprungen wird.

Ein junges Mitglied des Behindertenverbands Bayern e.V., das in einem Heim lebt, meldete mir, dass viele Einrichtungen nicht nur an einem Mangel an Pflegepersonal leiden, sondern auch an Engpässen bei der Versorgung mit Pflegehilfsmitteln wie Einmalhandschuhen, Masken, Desinfektionsmitteln.

Der Schutz der Risikogruppe ist auch davon abhängig, wie sich der Rest der Bevölkerung verhält. Eine Gesellschaft ist nur so stark wie ihr schwächstes Mitglied.

Patricia Koller

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