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Gibt es Menschen zweiter Klasse? Opfer zweiter Klasse?

Mein Name ist Claudia Westermann.
Ich bin 50 Jahre alt und schwer geh- und stehbehindert.

Ein Thema, das mir auf der Seele brennt, ist die sogenannte „Aktion T4“, die Ermordung hunderttausender Menschen, deren Leben als „unwert“ eingestuft wurde, weil sie krank oder behindert waren.

Diese Opfer werden häufig „vergessen“, da sie meist leise und alleine starben, nicht in Vernichtungslagern, sondern an Orten, an denen sie eigentlich Leben sollten.

Sie waren KEINE Menschen zweiter Klasse! KEINE Opfer zweiter Klasse!

Vielleicht fragen sich jetzt viele, was das im hier und heute zu suchen hat, auf dem Behindertenprotesttag?

Weil wir zurück schauen müssen, um nicht zu vergessen und um dafür zu sorgen, dass so etwas NIE WIEDER passiert!

Vor 80 Jahren begannen die Nazis mit der Ermordung mehrerer hunderttausend Behinderter.

Ich frage mich, wie vielen Menschen bekannt ist, dass die ersten Gaskammern für „Krankenmorde“ genutzt worden sind?

Erst in den letzten Jahren werden diese Morde zwar auch in den Medien thematisiert, aber meist nur am Rande.

Waren das Opfer zweiter Klasse??

Die „Aktion T4“ ist eine nach 1945 gebräuchlich gewordene Bezeichnung für die systematische Ermordung von mehr als 70.000 Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen in Deutschland von 1940 bis 1941.

Dieses wurde von der „ZentraldienststelleT4“ organisiert und geleitet.

Diese Morde waren Teil der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ in der Zeit des Nationalsozialismus, denen bis 1945 über 200.000 Menschen zum Opfer fielen.

Das Euthanasie-Programm der Nazis wäre ohne die gedankliche „Vorarbeit“ und praktische „Mitarbeit“ einiger Kirchenvertreter wohl kaum in dieser Form durchführbar gewesen.

Eigentlich stellt man sich doch schon allein bei dem Wort Kirche Menschlichkeit, Nachsicht vor.

Es gab aber auch Menschen in der Kirche, die sich aufgelehnt haben.

Einer von Ihnen war
Bischof Clemens August Graf von Galen.

Er war von 1933 bis 1946 Bischof von Münster und
hatte den Mut, öffentlich gegen die Morde aufzutreten.

Er wurde 1946 zum Kardinal erhoben und 2005 seliggesprochen. Auch wenn ich nicht mehr der Kirche angehöre, ist, dieser Mensch, meiner Meinung nach, zurecht seliggesprochen.

Ich vermute, dass wenige Menschen den Namen Karl Brandt bzw. den Begriff „Brandt-Aktion“ schon mal gehört haben.

Karl Brandt war Hitlers Begleitarzt.

1933 begann er, im Auftrag von Hitler, mit den Vorbereitungen für die „Kindereuthanasie“.

Mit Unterstützung führender Kinderärzte wurden bis Ende des Zweiten Weltkrieges zwischen 5.000 und 10.000 Kinder ermordet.

Nach dem von Hitler am 24. August 1941 befohlenen sofortigen Stopp der „Aktion T4“, aufgrund des öffentlichen Drucks, wurden die Menschen in der „dezentralen“, der sogenannten „wilden“ oder „stillen“ Euthanasie durch Mangelernährung und Medikamente in den Anstalten, in denen sie sich befanden getötet.

Das Personal der sogenannten Aktion T4 baute später die Vernichtungslager in Polen auf.

Selbst nach dem Ende des zweiten Weltkrieges am 08. Mai 1945 ging das Morden in den Anstalten noch monatelang weiter.

Teilweise wurden die Alliierten vom Zutritt zu den Anstalten durch gefälschte „Achtung Typhus!“-Schilder so lange abgehalten, bis alle Insassen ermordet waren

Im Gebiet des Deutschen Reiches wurden zwischen 1939 und 1941 sechs Euthanasie-Tötungsanstalten errichtet:

  • Grafeneck
  • Hartheim
  • Sonnenstein
  • Bernburg
  • Hadamar

Nehmen wir als Beispiel Grafeneck:

Hier wurden in 12 Monaten (lt. Hartheimer Statistik) 9.839 Menschen in den Gaskammern ermordet.

In den 1960er Jahren entstand in der Nähe des Schlosses eine Gedenkstätte.
Bis 1982 dauerte es aber noch, ehe auch eine Gedenktafel an die Opfer erinnerte.

Dürfen wir es zulassen, dass die Opfer vergessen werden?

Menschen zweiter Klasse? Opfer zweiter Klasse?

Bis heute werden diese Opfer NICHT als „NS-Verfolgte“ von der Deutschen Regierung anerkannt!

Warum nicht?

Waren das vielleicht doch Opfer zweiter Klasse?

Während der Opfer des Holocaust, zu Recht,jedes Jahr ausführlich gedacht wird, wird der Massenmord an den Behinderten noch immer verdrängt.

Am 80. Jahrestag des Mordbeschlusses war fast nichts über das Thema zu lesen.

Warum?

Doch Opfer zweiter Klasse?

Erst vor zwei Jahren stellte der Bundestag die Euthanasiemorde in den Mittelpunkt einer Gedenkstunde.

Warumso spät?

Opfer zweiter Klasse?

Für mich ist es unerträglich das die Regierung diese Gräueltaten nicht anerkennt.

Es macht mich richtig wütend,

so sehr, dass ich vor dem Rathaus stehe, und eine kleine Ansprache halte ,obwohl ich vor Menschen gar nicht gut reden kann!

Was damals passiert ist, darf sich nicht wiederholen!
Und wir müssen dafür sorgen, dass die Opfer nicht vergessen werden! Egal ob es behinderte Menschen, Juden, Sinti, Roma oder Homosexuelle waren.

Wir haben HEUTE eine rechtsradikalePartei im Bundestag sitzen.

Am 23.03.2018 wollten die AFD Bundestagsabgeordneten von der Regierung wissen, wie sich die „Zahl der Behinderten in Deutschland seit 2012“ entwickelt habe, und zwar

„insbesondere die durch Heirat innerhalb der Familie entstanden“.

Daran schlossen sie die Frage an, wieviele dieser Fälle einen Migrationshintergrund hätten.

Diese Verknüpfung von Behinderung und Inzucht darf nicht sich nicht wiederholen!

Ich kämpfe gegen das Vergessen von den Opfern aus der NS Zeit egal ob mit oder ohne Besonderheiten!

Wir dürfen uns nicht darauf verlassen, dass andere für uns was tun.

Wir müssen selber laut sein und unsere Forderungen deutlich zum Ausdruck bringen.

Ich bin Mitglied des Motorradclubs „Kuhle Wampe“.

Wir wollten eigentlich dieses Jahr schon eine Gedenkfahrt für die Opfer mit Behinderung aus der NS Zeit durchführen. Leider hat und das doofe Virus einen Strich durch die Rechnung gemacht, aber ich hoffe sehr, dass wir das nächstes Jahr nachholen können!

Noch ein paar Worte zum HIER und JETZT:

Ich bin schwerbehindert, dies schon seit 1993, und seit 2 Jahren in Rente.

Die Fehldiagnose eines Arztes führte dazu, dass ich seit 1993 meinen Fuß nicht mehr heben kann, weil der Nerv der dafür zuständig ist, tot ist.

Durch die Fehlhaltungen kam dann ein Problem nach dem anderen.

Heute bin ich nicht mehr arbeitsfähig und beziehe Rente.

Zusätzlich arbeite ich noch auf 450 Euro Basis, was mir natürlich sehr schwer fällt und zusätzliche Schmerzen verursacht.
Ich habe keinerlei Entschädigung bekommen, für die Fehldiagnose und muss mit den Folgen leben.

Wenn so etwas passiert, sollte dafür gesorgt werden, dass der Mensch wenigstens finanziell abgesichert ist.

Bevor mir die Rente zugesprochen wurde, stand ich fast vor dem finanziellen Ruin.

– Mein Arbeitgeber versuchte mich nach 19Jahren loszuwerden,

– gleichzeitig drohte mir die Krankenkasse mit Rauswurf, weil ich zu lange „krank“ war
– und die Rentenversicherung kam durch interne Fehler nicht in die Hufe.

Gesundheitlich ging es derweil bergab.
Monatelang hing ich ungesichert in der Luft.

Das war die Kurzversion!

So etwas ist in Deutschland möglich?

JA!

Menschen zweiter Klasse?

Ein Erlebnis, das ich vor drei oder vier Jahren hatte, werde ich nie vergessen:

Ich war beim Einkaufen als mich ein besonderer Mensch, freudig umarmte.

Wir hatten uns schon einige Zeit nicht gesehen und ich freute mich sehr, dass er mich wiedererkannt und sich so gefreut hat.

Es war eine ehrlich gemeinte Umarmung, keine, ich nenne es mal „lockere“ Smalltalk Umarmung.

Dann kam ein Wort, wahrscheinlich von seiner Mutter:

„ ENTSCHULDIGUNG“.

Wie bitte?

Warum sollte sie sich entschuldigen, wenn mich der Mensch umarmt und ich ihn?

Eine „ehrliche“ Umarmung, bedarf nie einer Entschuldigung!

Ja, vielleicht umarmt er auch „fremde“ Menschen, aber das hat mich zum Nachdenken gebracht.

Sollen das Menschen zweiter Klasse sein?

In Vorständen, Aufsichtsräten, Banken, Behörden, Parteien, Wirtschaftsgremien

und in rechten Zusammenrottungen sitzen Menschen, treffen Entscheidungen und schwingen große Reden, die

nur eine Behinderung in ihrer Sozialisierung, ihrer Humanität und ihrer Empathie aufweisen.

Viele von denen sind für Ausbeutung, Elend, Hunger und Gewalt verantwortlich.


Sind DAS die Menschen erster Klasse?

Schaut euch mal um,

schaut den nächsten Menschen an, den ihr seht.

Auch dieser Mensch hat seine Besonderheiten, manche sichtbar, manche nicht offensichtlich.

Ihr könntet auch in den Spiegel sehen.

Über Herzenskälte z.B., sehen wir geflissentlich hinweg.

Die Entrüstung über zynische Rechenbeispiele, wenn es um Wirtschaftlichkeit und Integration oder die Schwächsten in unserer Gesellschaft geht, hält sich in engen Grenzen.

Die Solidarität schreibt man im Deutschen übrigens groß, genauso wie die Menschlichkeit.

So sollten wir auch leben:
Solidarisch, menschlich, miteinander!

Claudia Westermann – Aktivistin für T4-Gedenken

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