Vom Traum der Politik zum Albtraum der davon abhängigen Menschen |
Neuerdings liest man immer wieder von der Forderung nach guten Zielvereinbarungen. Doch gibt es die? Zunächst gilt es festzustellen, dass es immer noch um die alten Leistungen der Sozialhilfe geht. Es geht darum, dass die Gemeinschaft möglichst wenig ausgibt, um Menschen mit Behinderung das selbstbestimmte Leben zu ermöglichen. Während Menschen ohne Behinderung unter Leben verstehen, dass ihnen alle Wege offenstehen, dass ihnen jeder Spaß ermöglicht wird, dass sie überall, ohne Ermittlungen anzustellen, Toiletten finden, hat man vom Leben der Menschen mit Behinderungen andere Vorstellungen. Dabei hängen wir alle gleichermaßen an der Infusionsflasche öffentlicher Mittel. Es wird befürchtet, dass durch die Anwendung der Menschenrechte für alle, ein gleichberechtigtes Mit-Leben in der Gemeinschaft, die eigenen Ansprüche zu kurz kommen, man gar etwas abgeben müsste.
Dabei haben die Väter unserer Verfassung es so gemeint, dass diese Grundrechte auch für die Menschen gelten sollten, die man nur wenige Jahre zuvor noch als unwert ausgesondert hatte. Man baute dann Anstalten für sie, die man gerne auf einen Hügel oder in Randbezirke verlegte, wo sie – satt und sauber aufbewahrt- aus dem Blickfeld der Normalbevölkerung verschwanden. Man war so von der Richtigkeit dieser Lösung überzeugt, dass man sich auch noch Jahrzehnte nach Kriegsende den Auszug aus diesen Anstalten gerichtlich erkämpfen musste. Hatte man das geschafft, blieben dennoch die Anstaltskosten oberste Kostengrenze. Wurden diese in der ambulanten Versorgung überschritten, musste man sich gerichtlich dagegen wehren, wieder hinter diesen Mauern zu verschwinden.
Artikel 1(n) GG Die Würde des Menschen ist anzutasten Es scheint so, als ob diese Abwandlung des Artikels 1 unserer Verfassung zur obersten Prämisse der Ausbildung und des Handelns unserer Sozialbehörden wurde. Das „(n)“ steht für die Gültigkeit ausschließlich für behinderte Menschen, die Nachteilsausgleiche in Anspruch nehmen müssen.
Doch auch andere Artikel wurden für diesen Zweck abgewandelt:
Artikel 2(n) GG „Jeder hat so lange das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, bis er hierbei Kosten verursacht.“ Danach organisiert der Staat die Persönlichkeit unter der Maßgabe, keine oder wenig Kosten zu verursachen.
Artikel 3(n): „Menschen mit Behinderung dürfen nach wie vor benachteiligt werden.“
Artikel 5(n): „Die Pressefreiheit wird dahingehend etwas reduziert, dass die Bevölkerung nicht unnötig mit Berichten über das Schicksal von Menschen mit Behinderung belästigt wird.“
Artikel 6(n): „Ehe und Familie stehen so lange unter dem Schutz der Verfassung, solange niemand behinderungsbedingte Nachteilsausgleiche in Anspruch nehmen muss. Danach gilt das Prinzip der Mithaftung, persönlich und auch finanziell.“
Artikel 11(n): „Die Freizügigkeit für behinderte Menschen mit Nachteilsausgleichsbedarf wird dadurch gravierend derart eingeschränkt, dass sie bei jedem Wohnortwechsel das behördliche Verfahren mit allen Risiken erneut durchlaufen müssen.“
Artikel 13(n): „Die Wohnung von behinderten Menschen mit Nachteilsausgleichsbedarf obliegt der Verletzbarkeit durch staatliche Behörden. Diese sind gehalten, eventuelle Beziehungen zwischen ihnen und ihren Assistenzpersonen durch Inaugenscheinnahmen vor Ort zu prüfen.“
Artikel 14(n): „Eigentum und Erbrecht unterliegen dem enteignenden Zugriff der Behörden, die ihre Ermessensspielräume beliebig ausnutzen können.“
Grundrechte sind unantastbar! Sollte man meinen! Im Artikel 19 Absatz 2 des Grundgesetzes wurde quasi in Stein gemeißelt: „In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.“ Dennoch dürfen Behörden scheinbar beliebig gegen diese Grundrechte verstoßen. Immer noch wird behinderten Menschen, die aus der Not heraus Anträge auf Nachteilsausgleiche stellen, sehr oft das Gefühl vermittelt, Schmarotzer zu sein. Man macht ihnen klar, dass
- man solche hohen Ansprüche noch nie erlebt hat,
- noch nie was vom Persönlichen Budget gehört hat.
- das Arbeitgebermodell nicht in Verbindung mit dem Persönlichen Budget funktioniert.
- dass es die Leistung für die Assistenzkosten nur mit dem Persönlichen Budget geben kann.
- dass es bei einem hohen Einkommen kein Persönliches Budget geben kann.
- dass es das Budget nicht für die Eingliederungshilfe gibt.
Die Liste lässt sich weiterführen. Auch die der verletzten Grundrechte. Beispielsweise im Bereich Kitas und Schule. Zwar hat der Gesetzgeber in den §§ 13 und 14 SGB I, § 97 SGB IX sowie im § 6 SGB XII, scheinbar vorgesorgt, dennoch scheint man sich bei den Kostenträgern herzlich wenig darum zu kümmern, dass die Antragstellerinnen zu ihrem Recht kommen. Die Machtlosigkeit von behinderten Menschen gegenüber Behördenmitarbeiterinnen lässt sich an folgenden Dokumenten erkennen, die das Pauschale Pflegegeld nach § 64a SGB XII betreffen:
- Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales teilte am 18.02.2021 mit, dass es keinen Einfluss auf das Bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales hat.
- Das Bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales teilt am 25.02.2021 mit, dass es keinen Einfluss auf die bayerischen Bezirke hat.
- Der Bezirk Unterfranken teilte am 11.08.2017 ForseA mit, dass die Sachbearbeiter weitgehend autonom seien.
Gerne wird man von der Politik auf den Rechtsweg verwiesen. Dieser ist jedoch teuer, da Anwälte in der Regel jenseits ihrer Gebührenordnung privates Honorar abrechnen wollen oder keine Zeit haben. Dazu verschlingt das gesamte Procedere nochmals viel Zeit. Beides ist ein rares Gut bei diesen Hilfesuchenden, die sich in einer Notlage befinden. Wenn man dann auch noch wenig Glück hat, begegnet man einem Sozialrichter, der die Klägerin mit folgenden Aussagen unter Druck setzt.
- Er sähe keinen Grund für die Zahlung des anteiligen Pflegegeldes nach § 64a SGB XII
- Bei dem schlecht gemachten Teilhabegesetz wolle keiner zugeben, dass die Leistungen auf die Heimkosten gedeckelt wären.
- Vereine der Behindertenselbsthilfe würden stören, da sie die Menschen aufhetzen würden.
- Er könne nicht entscheiden, weil Grundlage des Bescheides eine zivilrechtliche Vereinbarung sei.
- Er könne dem Bezirk nur Vorgaben machen. Die Entscheidungen treffe der Bezirk
- Die Entlastungsleistungen könnten dazu verwendet werden, dass Assistentinnen Überstunden abbauen
Und dann, als krönenden Abschluss bestätigt er, dass, wenn kein Vergleich zustande käme, er in ein paar Wochen diesen Vergleich als Urteil erlassen werde. Aus der Sitzungs-Niederschrift ein Zitat, das von uns als zynisch angesehen wird, da der Richter zuvor dem Kostenträger bescheinigt hat, dass seine Ablehnung des beantragten Bedarfes richtig sei: „Der Vorsitzende weist darauf hin, dass die Klage letztlich keine Aussicht auf Erfolg biete, da der Bedarf der Klägerin ausweislich der vorliegenden Abrechnungen durch das gewährte Budget gedeckt sei. Weitere ungedeckte Bedarfe seien nicht ersichtlich. Zur Vermeidung weiterer Kosten sei daher eine Erledigungserklärung erwägenswert.“ Derart eingeschüchtert und unter Druck gesetzt, stimmt man zu und hat damit seine Rechtsmittel in die Tonne getreten.
Bei den vielen Sachbearbeiterinnen, die zudem ständig gewechselt werden, kommen bei allen Antragstellerinnen unterschiedliche Ergebnisse zustande. Niemand kann und soll sich mit anderen vergleichen. Manche bekommen das Pauschale Pflegegeld, manche nicht, obwohl der Anspruch selbst allerorts unstrittig ist. Am 10.11.2020 hat dies das sächsische Landessozialgericht ausdrücklich bestätigt (Aktenzeichen L 8 SO 67/20 B ER). Es hat auch festgestellt, dass mit dem Pauschalen Pflegegeld keine konkreten Kosten bezahlt werden müssen. Weitere Infos hierzu auf den ForseA-Beratungsseiten.
Das ist es, was wir als staatlichen Gewaltmissbrauch anprangern. Dieses Gestrüpp aus Gesetzen, Verordnungen, Urteilen ist bestens dazu geeignet, sich darin zu verheddern. Weder kann man damit als Laie seine Ansprüche begründen, noch kann man Dritten, wie beispielsweise Medien, seine Benachteiligungen vermitteln. Nach wenigen Minuten winken diese ab, weil es für Unbeteiligte absolut intransparent ist. Am Beispiel der Zielvereinbarungen zum Persönlichen Budgets wird sehr deutlich, dass alles nicht zusammenstimmt.
Dies eröffnet den Sozialbehörden alle Möglichkeiten, die Antragstellerinnen unter Druck zu setzen: Alle Zielvereinbarungen werden befristet erstellt. Zwar gibt es hierfür keinen Sachgrund, aber die Befristung ist eine treffliches Mittel dafür, dass sich die davon betroffenen Menschen nie in Sicherheit wiegen können. Immer und immer wieder müssen sie sich unter das Okular des behördlichen Mikroskops begeben und darauf hoffen, dass ihnen daraus keine Nachteile erwachsen. Mit Urteil vom 28.1.2021 hat das Bundessozialgericht (Aktenzeichen: B 8 SO 9/19 R) diese Befristungen als Unrecht erkannt.
Gibt es „gute“ Zielvereinbarungen?
Ja, es gibt tatsächlich einige wenige Kostenträger, die sich an Geist und Buchstaben der Gesetze orientieren. Im Wesentlichen jedoch ein eindeutiges „Nein“! Hier handelt es sich um Menschen und nicht um Produktionsfortschritte. Es gibt Zielvereinbarungen, in denen unter einem Dutzend Zielen auch festgelegt wurde, dass einmal im Monat die Tante Emma besucht werden soll. Nun könnte es vorkommen, dass eben diese Tante im Alter von 101 Jahren stirbt. Und schon sind die Ziele in Gefahr.
Sinnvoll ist als Ziel die Angabe „Leben inmitten der Gesellschaft“. Jeder weitere Aufriss birgt die Gefahr, wegen Nichteinhaltung der Ziele oder wegen nicht zielentsprechender Mittelverwendung je nach Gusto der Behörde gravierende Probleme zu bekommen. Beispielsweise geriet in Rheinland-Pfalz ein Frau in Schwierigkeiten, weil sie aus dem Budget der Eingliederungshilfe mit der Assistenz eine Toilette aufsuchte. Deshalb ist eine Auflistung einzelner Ziele abzulehnen.
Riesige Irritationen erzeugt auch die Beratung, dass man eine falsche Zielvereinbarung zunächst vorbehaltslos akzeptieren muss, um sie anschließend zu bekämpfen. Daran kann man erkennen, dass das zivilrechtliche Konstrukt „Zielvereinbarung“ juristisch nicht angreifbar ist. Schließlich ist sie durch beide Unterschriften „einvernehmlich“ zustande gekommen. Erst nach der beiderseitigen Unterschrift ist ein Bescheid möglich, gegen den Widerspruch eingelegt werden kann. Vorher ist der Rechtsweg versperrt.
Wenig Beachtung findet auch die Tatsache, dass das Budget von den Budgetnehmern lediglich verwaltet wird. Es bleibt bis zur ordnungsgemäßen Verwendung im Eigentum der Budgetgebers. Das ist beispielsweise interessant, wenn es zu Kontenpfändungen kommt. Hier pfänden Banken auch das Assistenzkonto und vergreifen sich damit an Geldern, für die kein Pfändungsbeschluss vorliegt. Für uns unstrittig ist, dass die Budgetgeber nachschießen und sich selbst bei der Bank um ihr Geld kümmern müssen. Die Budgetnehmer als Verwalter der Gelder sind nicht in der Lage, hier selbst rechtlich tätig zu werden. Hier hat der Gesetzgeber es versäumt, eindeutige Regelungen zu schaffen. Diese fehlen auch im Falle des Todes der Budgetnehmerin. Manche Kostenträger sind der Ansicht, der gesamte Vorgang sei damit erledigt und weigern sich, die durch den Tod der Arbeitgeberin beendeten Arbeitsverhältnisse sauber abzuwickeln.
Ein weiterer Aspekt betrifft die Schwankungsreserve. Es gibt Menschen, die der Versuchung erliegen, aus der Schwankungsreserve Beträge zu entnehmen und damit Leistungen oder Gegenstände bezahlen, die nicht in der Zielvereinbarung stehen. Mitunter kommen solche Vorschläge sogar von Kostenträgerseite, wenn es sich beispielsweise um Pflegehilfsmittel oder aktuell um Corona-Schutzausrüstungen oder Tests handelt. Es droht die Gefahr, dass bei der Abrechnung des vereinbarten Zeitraumes eben diese Beträge zurückgezahlt werden müssen. Man ist nur dann auf der sicheren Seite, wenn diese Erweiterung der Verwendungszwecke auch in Form einer Ergänzung in die Zielvereinbarung einfließt. Oder wenigstens schriftlich festgelegt wurde. Mündliche Abreden haben angesichts des hohen Personalwechsels in den Sozialbehörden keine Nachhaltigkeit.
Es ist festzustellen, dass Zielvereinbarungen missbraucht werden, um in Verhandlungen die Bedarfe zu drücken. Oft haben Antragstellerinnen angesichts einer größeren Zahl von Personen der Gegenseite den Eindruck, eingeschüchtert zu werden. Obwohl die Assistenz im Krankenhaus seit 2009 gesetzlich gesichert ist, steht sie noch immer in den Zielvereinbarung als Meldepflicht. Selbst für Kunden ambulanter Dienste gibt es zwischenzeitlich Gerichtsentscheidungen, die auf die Gleichbehandlung mit Arbeitgebern pochen.
Fazit:
Das Persönliche Budget hat nichts einfacher gemacht. Im Gegenteil: Mit großem Erstaunen mussten wir eine Zielvereinbarung zur Kenntnis nehmen, in der ein Persönliches Budget mit einem monatlichen Abrechnungszeitraum vereinbart werden sollt: Ein totaler Widerspruch in sich!
Februar 2021
Gerhard Bartz, Vorsitzender ForseA e.V.
(Anmerkung von ForseA: Unter dem Aspekt, dass es Männer leichter ertragen, als solche unerwähnt zu bleiben, schreiben wir nun alle neuen Texte ausschließlich in weiblicher Form, damit die Lesbarkeit nicht leidet.)