Hallo,
ich freue mich heute hier sein zu dürfen. Im Dezember lernte ich Patricia Koller über´s Internet kennen und ihr hab ich es zu verdanken, dass ich heute hier reden darf.
Ich heiße Alexandra Sahlender, bin seit 27 Jahren Erzieherin in der Behindertenarbeit und komme aus Königsberg in Unterfranken.
Inklusion war für mich schon immer nur ein Wort! Mittlerweile weiß ich auch warum? Inklusion oder Integration braucht man das? Ich bin der Meinung Nein.
Denn wenn man miteinander und ehrlich füreinander da ist, sich auf Augenhöhe begegnet, dann braucht man diese Begrifflichkeiten nicht.
Denn warum sollte ein behinderter Mensch woanders stehen, als ein Mensch ohne Behinderung. Man sollte sich immer vor Augen halten, dass man von heute auf morgen auf der anderen Seite stehen könnte. Und sind wir doch mal ehrlich, wer möchte denn auf seine Rechte verzichten, die er bis dahin hatte.
Wenn diese Barrieren endlich aus unseren Köpfen verschwinden würden, dann ist endlich ein Miteinander auf dieser Welt möglich und Inklusion nur ein Wort, das niemand mehr braucht?
Aber nun zu meiner Geschichte und warum ich eigentlich heute hier stehe.
Im Oktober 2017 sollte sich mein Leben grundlegend ändern. Grund dafür war ein behinderter Mann, der mit 50 Jahren über Nacht sein Zuhause verlor. Seine Eltern, bei denen er bis zu diesem Zeitpunkt gelebt hat, kamen bei einem Brand um´s Leben. Er wurde erstmal im Krankenhaus ein paar Tage versorgt, bevor ich ihn bei mir aufnahm, weil ihn zu diesem Zeitpunkt wirklich niemand haben wollte.
Er galt damals als sehr aggressiv (trotz einer hohen Dosis an ruhigstellenden Medikamenten) und hatte auch in der Werkstatt seine Probleme.
Aus meiner langjährigen Erfahrung heraus kann ich nur sagen, dass Medikamente nicht die Ursache beheben, sondern sie nur verschleiern und leider auch jedes Medikament seine Nebenwirkungen hat. Und diese waren bei ihm zwicken, beißen, schlagen, wenn er die Welt in der er lebte mal wieder nicht verstand.
Er kämpft sich auf 2 kl. Krummen Beinen durch´s Leben und kann sich nur durch Laute, Mimik und Gestik verständigen.
Als er zu mir kam, wurde ich von den meisten für verrückt erklärt. Viele freuten sich für den 50-jährigen Mann, viele stellten aber auch die Frage: „Warum tust du dir so etwas an?“
Ja warum tut man sich so etwas an!
Ich kann nur so viel sagen, dass zwischen ihm und mir von Anfang an so eine Vertrautheit vorhanden war, dass sich diese Frage für mich gar nicht stellte.
Er hatte von Anfang an bei mir ein neues Zuhause gefunden, in das er sich integrierte und auf seine Art und Weise am Leben teilnahm.
Zu dieser Zeit war sein Schwester, die auch seine Rechtsbetreuerin ist, froh jemanden für ihn gefunden zu haben und tat alles damit es ihm gut ging.
In meinem Wohnzimmer wurde ein Bett aufgestellt, damit er nicht erst in den 1. Stock musste. Dies wäre für ihn aber jederzeit möglich gewesen. So nahm er am Leben teil und war immer mit dabei. Auch wurde in meinem Bad eine begehbare Dusche eingebaut, um ihm die tägliche Hygiene zu erleichtern.
Am Anfang wurden auch die Medikamente ausgeschlichen und er nahm am Leben teil.
Freunde und Familie von mir waren begeistert, wie er sich entwickelte, wie glücklich er war und das auch auf seine Art zeigte.
Er nahm an Aktivitäten der offenen Behindertenarbeit teil, ging mit auf jedes Fest, alles war auf einmal möglich mit anderen Menschen mit und ohne Handicap etwas zu unternehmen.
Urlaub machen, Essen gehen, Konzert, Kino oder Theaterbesuche – Inklusion wurde also in vielen Bereichen gelebt.
All dies war in seinem Leben früher nicht möglich, aufgrund seiner aggressiven und herausfordernden Verhaltensweisen, weil er es nicht wollte.
Bei mir wurden seine Aggressionen von Tag zu Tag weniger und waren in unserem Leben nicht mehr vorhanden. Er war endlich angekommen und wir wurden Freunde für´s Leben!
Wie ist so etwas möglich? Er hatte keine Angst mehr, weil er gehört wurde und sich verstanden fühlte. Ich behandelte ihn nicht wie einen Behinderten, den ich betreuen musste, sondern als Freund, als einen Teil meiner Familie.
Siehe da nach 50 Jahren kam ein ganz anderer Mensch zum Vorschein!
Wäre dies ein Film, würde jeder sagen: Wow, super, das ist eine tolle Freundschaft. Im Leben sieht es leider anders aus. Es ist nicht gewollt!
Also blieb nicht aus, was kommen musste. Ab April 2019 wurden wieder Medikamente gegeben und die Schwester suchte, ohne mein Wissen, ein Heim für ihn.
Zu dieser Zeit kam er oft nach Hause und weinte. Ich verstand die Tränen erst, als er am 3.8.2019 von mir ging. Er wurde immer wieder während seines Werkstattaufenthalts in das Heim zum Vorstellen gebracht und er wollte mir auch sagen, dass es ihm in seiner Werkstatt nicht mehr gut ging.
Sobald er da war, ich ihn tröstete und mit ihm redete, so schnell verging seine Trauer und er blühte wieder auf und der Mensch, den ich kennenlernen durfte, kam wieder zum Vorschein.
Man hätte für alles eine Lösung finden können, aber es war wie schon mal erwähnt nicht gewollt. Er hätte für den Rest seines Lebens in dieser WG wohnen können. Doch es war ihm nicht gegönnt und er musste nach 22 Monaten in ein Heim.
Jeder ist anders und das ist auch gut so und solange sich dieses bevormundende Denken nicht ändert, ändert sich auch nichts an den Rechten und somit an dem Leben schwerstbehinderter Menschen.
Trotz UN-Konventionen, in denen nicht steht, dass nicht sprechende Menschen ausgenommen sind und dem Bundesteilhabegesetz kann dieser Mensch sein Recht auf ein „Normales Leben“ nicht wahrnehmen.
Momentan befinde ich mich mit seiner Schwester in einem Rechtsstreit, weil ich für ihn und mich kämpfe für ein eigenständiges Leben.
Ich würde mich freuen, wenn ich heute hier jemanden kennenlernen würde, der entweder sich in einer ähnlichen Situation befindet oder jemanden, der sich mit dieser Problematik auskennt.
Vielleicht kann man gemeinsam oder über die Öffentlichkeit etwas erreichen, in erster Linie für ihn, aber auch für andere Menschen in seiner Situation.
Deshalb protestiere ich heute für Menschen, die nicht sprechen können, dass man auch Ihnen eine Stimme gibt und versucht, sie zu „hören“ bzw zu verstehen!
Ich protestiere für meinen behinderten Freund, dass wir endlich Gehör finden!
Ich kann – im Gegensatz zu ihm – sprechen, aber auch auf mich möchte im Moment niemand hören!
Er hat seit August 2019 Ausgangssperre, er darf mich und seine Freunde aus seinem vorherigen Leben nicht sehen!
Nur seine Schwester, die er in den 22 Monaten bei mir kaum gesehen hat, hat momentan Kontakt zu ihm. Wie ist das möglich? Warum findet man hier kein Gehör!
Wer würde einem nicht behinderten Menschen so etwas zumuten!
Mein Freund ist ein Mensch mit Herz, der gerne lernt und hilft. Wir haben uns mit und ohne Worte versanden. Diese Art zu wohnen und zu wachsen war für ihn gut und ich setze mich dafür ein, dass er diese Lebensqualität wieder bekommt!
Er hat wie jeder andere Mensch auch das Recht auf ein „Normales Leben“. Ein Recht auf Familie, Freunde, Liebe, einfach ein „Normales Leben“. Ein Recht, das jeder Mensch auf dieser Welt haben sollte.
Alexandra Sahlender