Wolfgang Mederle/ Beiträge, Texte

Covid-19 rückt gerade vielen von uns den Kopf zurecht. Wir lernen, wer die eigentlichen »Leistungsträger« in unserer Gesellschaft sind – und es sind nicht die, die das so gerne von sich behaupten. Es sind überwiegend die, die wir schlecht bezahlen, die im Akkord- und Schichtdienst schuften, die unsere Lebensmittel produzieren, uns Sachen bringen, uns pflegen, unseren Dreck wegräumen. Menschen, die oft mit Mitte 50 körperlich und manchmal auch seelisch am Ende sind, während wir Sesselfurzer vor der ersten Skype-Sitzung noch schnell mit dem SUV durch den Stau ins Fitness-Studio kriechen, um uns die Speckrollen beim Auf-der-Stelle-Laufen abzutrainieren.
Von »Triage« war bisweilen am Anfang der Virus-Krise zu lesen. Triage ist, wenn man zwei Schwerkranke hat und nur ein Beatmungsgerät. Es ist eine der ethisch schwierigsten Entscheidungen, die medizinisches Personal bei Ressourcenknappheit treffen muss. Die meisten von uns wollen nicht, dass jemand je vor dieser Entscheidung steht, und auch deshalb ist die große Mehrheit mit den aktuellen Einschränkungen und auch Eingriffen in die persönliche Freiheit einverstanden.
Boris Palmer, Tübingens Oberbürgermeister, hat sich gerade entschuldigt für die Aussage »Ich sage es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.« Palmers Aussage zeichnet das Bild einer Entscheidung zwischen einem 95-Jährigen und einem Teenager. Wie aber steht es um die Entscheidung zwischen dem 70-jährigen Oberarzt und der 40-jährigen Krankenpflegerin? Der psychisch kranken, nicht arbeitsfähigen Mittdreißigerin mit zwei Kindern und dem gleichaltrigen privat versicherten Investmentbanker?
»AfD-Bundessprecher Jörg Meuthen fordert das sofortige Ende der Corona-Shutdown-Politik der Bundesregierung«, schreibt AfD Kompakt. Ihr Fraktionsvorsitzender äußert sich so: »Der ‚Shutdown‘ droht mehr Schaden anzurichten als das Virus selbst. Die fortdauernde schwerwiegende Einschränkung von Grundrechten, das drohende Verschwinden vieler Unternehmen und die Verödung ganzer Landstriche zerstören den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenhalt. Leidtragende sind Millionen Arbeitnehmer und Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen, deren Zukunftsperspektive zerstört wird.«
Ist das so? Sehen wir nicht gerade gelebten gesellschaftlichen Zusammenhalt – durch physische Distanz? Vielleicht eröffnet uns die Krise die Möglichkeit zur Diskussion darüber, was für eine Gesellschaft wir wollen, und wie wir Wirtschaft uns wieder mehr dienstbar machen und weniger als Selbstzweck ansehen. Knapp über die Hälfte unserer Bevölkerung ist in Erwerbsarbeit. Die andere Hälfte sind Rentner, Kinder, Studierende, Menschen, die in unserem Wirtschaftssystem keinen Platz finden und Menschen, die unbezahlte Arbeit leisten. Elternteile, die sich um Haushalt und Kinder kümmern, Familienangehörige (meist Frauen), die Alte und Kranke pflegen. Die ehrenamtlich tätig sind, im Dienste der Gesellschaft.
Menschenleben und Wirtschaftsleistung gegeneinander aufzurechnen, das kann nicht aufgehen. Eine Gesellschaft ist mehr als ein Bruttoinlandsprodukt und eine Wachstumsrate. Unser Grundgesetz ist eindeutig in seinen Aussagen zu menschlicher Würde, Menschenrechten, gesellschaftlicher Verpflichtung des Eigentums – und in seiner Nichtaussage über die praktische Gestaltung unseres Wirtschaftssystems.
Wer die Wirtschaft über das Leben stellt – im aktuellen Fall vor allem über das Leben der Alten, der Immungeschwächten und derjenigen, die sie im Krankheitsfall versorgen –, stellt unser Grundgesetz in Frage.
Meine Urgroßmutter starb im Februar 1944 im Klinikum Eglfing-Haar. Offiziell war die Todesursache Tuberkulose. Inoffiziell erzählte meine Großmutter „Die hat nichts mehr gegessen.“ Oder sie hat nichts mehr zu essen bekommen, wie Tausende andere, deren Leben als »lebensunwert« eingestuft wurde, weil sie psychisch oder körperlich eingeschränkt waren und keiner Arbeit nachgehen konnten und die man deshalb systematisch verhungern ließ. Der Beginn der NS-»Euthanasie« im Rahmen des T4-Programms jährt sich heuer zum achtzigsten Mal.
Wir stehen heute vor der Frage, was wir sein wollen. Eine Gesellschaft, die zusammenhält, auch wenn es mal schwierig wird – oder eine, die aussortiert. Auf einer Gedenkveranstaltung zur NS-»Euthanasie« am 24. Januar 2020 forderte der bayerische Innenminister Joachim Herrmann dazu auf, unsere Werte wie Menschlichkeit, Respekt, Toleranz und Achtung vor der Würde eines jeden Einzelnen hochzuhalten. »Wir müssen diese Werte mit Leben füllen und, wo nötig, auch verteidigen.« [Pressemeldung] Wenn wir jedes Leben wertschätzen und nicht zynisch anfangen, aufzurechnen, kann das klappen.

Wolfgang Mederle

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1 Kommentar

  1. Gut gebrüllt, Löwe.
    Danke.

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