- Letztes Jahr bin ich als einzige Frau mit sichtbarer Behinderung ins Europaparlament gewählt worden. Von 705 Abgeordneten: 1 Frau mit sichtbarer Behinderung. Das ist schon bitter. Und das schlimmste daran, als Kind hätte ich nicht damit gerechnet.
- Das darf nicht sein. Es darf nicht sein, dass uns von klein auf nicht die gleichen Perspektiven in Aussicht gestellt werden wie Menschen ohne Behinderung. Und es darf nicht sein, dass Menschen mit Behinderung aus diesem Grund nicht sichtbar sind.
- Behinderung darf kein Ausschlusskriterium sein. Wir brauchen mehr Frauen mit Behinderung, die Bundeskanzlerinnen, Fernsehmoderatorinnen, Firmenchefinnen oder Schauspielerinnen werden. Die uns und der Gesellschaft zeigen, dass Chancengleichheit möglich ist. – Dafür kämpfe ich auf europäischer Ebene.
- Auch wenn Inklusion auf nationaler Ebene umgesetzt werden muss, kann die EU die Mitgliedstaaten an ihre Verpflichtungen erinnern, Druck ausüben und Mittel bereitstellen. Denn auch die EU hat 2010 die UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben und sich zur Wahrung der Rechte von Menschen mit Behinderung verpflichtet.
- Auf Europäischer Ebenen tut sich was. Im Frühling hat das Europäische Parlament, auf meine Initiative hin, eine Resolution verabschiedet, die die europäische Kommission dazu auffordert, eine starke Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderung für die Zeit nach 2020 zu erarbeiten. Ende des Jahres wird die Kommission einen ersten Entwurf dazu vorlegen.
- Wir fordern eine stärkere Kontrolle der Mitgliedstaaten, um Missstände besser aufweisen und nachgehen zu können. Die Rechte von Menschen mit Behinderung müssen in allen EU-Richtlinien berücksichtigt werden: von Arbeits- bis hin zu Kulturpolitik. Wir fordern die Förderung selbstbestimmten Lebens – weg von Einrichtungen. Statt Einrichtungen sollen lokale Dienst- und Unterstützungsleistungen stärker gefördert werden. Wir fordern bessere Unterstützung und Entlastung von pflegenden Angehörigen. Außerdem muss die europäische Freizügigkeit für alle, also auch endlich für Menschen mit Behinderung gelten. Dafür brauchen wir einen europäischen Schwerbehindertenausweis, gegenseitiges Anerkennung nationaler Definitionen von Behinderung und barrierefreies Reisen durch ganz Europa. Frauen und Mädchen, die oft Opfer von Mehrfachdiskriminierung sind, müssen besonders unterstützt werden. Ihr seht, die Liste ist lang..
- Ein großer Rückschlag war für uns die Corona-Pandemie. Covid-19 hat uns noch einmal schmerzlich die Folgen mangelnder Inklusion verdeutlicht. Das abgeschottete Leben in Einrichtungen hatte für viele verheerende – teils sogar tödliche – Konsequenzen.
- So ereignete sich die Hälfte der Coronavirus-Todesfälle in Europa in Pflegeheimen. Dort erhielten die Bewohner*innen nicht immer medizinische Hilfe: In einer Einrichtung in Rumänien wurden 242 Menschen mit Behinderungen infiziert, jedoch nicht ins Krankenhaus gebracht. Ähnliches ereignete sich in Spanien, wo die Region Madrid Heimen verboten haben soll, Bewohner*innen mit schwerwiegenden Vorerkrankungen ins Krankenhaus zu transferieren.
- Es ist beängstigend, wie schnell Menschenrechte in Krisensituationen in den Hintergrund rücken. Plötzlich wurde das Prinzip »jedes Leben ist gleich viel wert« (gerettet zu werden) in Frage gestellt. Das gruselige Wort »Triage« tauchte auf. Menschen wurden »sortiert« und priorisiert. Wer beatmet wurde und wer nicht, hing in Pandemie-Hochburgen wie Italien und Spanien vom Alter und der Lebenserwartung ab. Als Mensch mit Behinderung hatte man so schlechte Karten – eine furchtbare Vorstellung, im Krankenhaus abgewiesen oder gar nicht erst dorthin gebracht zu werden. Auch wenn nicht alle Menschen mit Behinderung zur »Risikogruppe« gehören und Angst vor einem tödlichen Virusverlauf haben, so wurden sie während der verschiedenen Lockdowns und Corona-Maßnahmen auch in anderen Bereichen allein gelassen. Vor allem Pflege- und Unterstützungsdienste fielen aus.
- Auch hier müssen wir Konsequenzen ziehen. Politik muss in die Verantwortung gezogen werden und Menschen mit Behinderung müssen automatisch und von Anfang an in das Krisenmanagement mit einbezogen werden. Wenn man bedenkt, dass jeder Fünfte in Europa eine Art von Behinderung hat, müsste dies eine Selbstverständlichkeit sein.
Katrin Langensiepen, MdEP (Die Grünen) – Vorsitzende der interparlamentarischen Gruppe von Menschen mit Behinderung des Europäischen Parlamentes